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  • Westliche Flachlandgorillas N'Gola und Mahiri (Jungtier) im Zoo Zürich.

    Der schmale Grat

    Zoodirektor Severin Dressen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mensch und Tier und was sie für Folgen haben.

    Was ist im Zoo Zürich der Unterschied zwischen N’Gola, Igor und mir? Da ist das Alter. N’Gola ist 11 Jahre älter als ich, Igor 22 Jahre jünger. Igor ist gleichzeitig mit 200 kg der Schwerste von uns. Danach kommt N’Gola mit 150 kg und ich mit … naja auf jeden Fall weniger als N’Gola.

    Igor ist waschechter Schweizer, N’Gola Brite und ich bin Deutscher. Und natürlich das Wichtigste: N’Gola ist ein Gorilla, Igor ein Hausschwein und ich bin ein Mensch.

    Wir drei gehören zu unterschiedlichen Arten – davon gibt es je nach Schätzung 6–10 Millionen auf der Erde. Doch was unterscheidet die einzelnen Arten? Christen (und auch Angehörige anderer Religionen) sehen in uns Menschen die Krone der Schöpfung. Gott hat den Menschen als sein Bild geschaffen. Damit ist gleichzeitig auch klar, wer das Sagen hat: erst Gott, dann die Menschen, dann der Rest.

    Aus biologischer Sicht ist diese Aufteilung nicht so einfach. Mensch und Gorilla teilen 98.4% ihrer DNA. Nach neusten Forschungsergebnissen teilen aber selbst Mensch und Schwein 98% ihrer DNA. Reichen 2% Unterschied für den weltweiten Chefsessel?

    Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen den anderen Tierarten und uns. Tiere haben Sozialstrukturen, empfinden Schmerz, nutzen Werkzeuge und manche Tiere erkennen sich sogar im Spiegel.

    Das Tierrecht greift diese Gemeinsamkeiten auf. Aus dem Selbstzweck der Tiere leitet man eine Würde für Tiere ab und daraus die Notwendigkeit, Tieren Grundrechte zu geben. Grundrechte münden automatisch in einem Verfügungsverbot. Aus gutem Grund darf ich als Mensch über keinen anderen Menschen bestimmen. Ich bin genauso viel wert wie alle anderen 7 Milliarden von uns. Wenn Tiere Grundrechte bekommen, darf ich logischerweise auch nicht mehr über diese Tiere bestimmen.

    Die Idee dahinter ist eigentlich gut, denn man versucht damit, Tiere besser zu schützen. Und Tiere brauchen unseren Schutz und unsere Hilfe.
    Grundrechte für Tiere würden aber auch verhindern, dass wir Verantwortung für sie übernehmen können. Diese Fähigkeit ist für mich ein wichtiger Unterschied zwischen uns Menschen und dem Rest der Tierwelt. Nur wir Menschen sind in der Lage, Verantwortung für andere Arten zu übernehmen. N’Gola kann sich nie um Igor kümmern – nicht im Zoo und auch nicht in der Natur. Nur wir Menschen können das.

    Wir haben die Verantwortung, möglichst viele Tiere und Pflanzen vor der Ausrottung zu bewahren. Daher betreiben moderne Zoos und andere Naturschutzorganisationen aktiven Artenschutz.

    Wir sorgen dafür, dass es gesunde Populationen hochbedrohter Tierarten in Zoos gibt. Wir zügeln Tiere wie Nashörner von einem eingezäunten Nationalpark zum nächsten, wenn es vor Ort zu viele werden. Oder wir fällen nach illegal gelegten Bränden die schwere Entscheidung, welche Tiere in Auffangstationen kommen und welche zu schwer verletzt sind und eingeschläfert werden müssen.

    Diese Arbeit ist nur möglich, weil wir fähig sind, Verantwortung zu übernehmen. Sie ist aber auch nur möglich, weil wir über die anderen Tierarten verfügen dürfen. Nur so können wir Igor, N’Gola und allen anderen Tieren ein tiergerechtes Leben ermöglichen – in Zoos und in der Natur.

    Die Zeit rennt uns davon: ein Drittel aller Tierarten ist heute in irgendeiner Form vom Aussterben bedroht.

    Zoodirektor Severin Dressen 2020 im Masoala Regenwald des Zoo Zürich.

    Zoodirektor Severin Dressen.

    Nebenstehender Text erschien erstmals im Rahmen der «Zoologisch»-Kolumne Severin Dressens im «SonntagsBlick-Magazin».