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  • Seehunde im Zoo Zürich blicken durch die Scheibe des Unterwassereinblicks.

    Biologie vs. Science-Fiction

    Zoodirektor Severin Dressen über die Vermenschlichung von Tieren und weshalb sich ein Orca nicht um Tiefseewürmer kümmern kann.

    «Warum sind manche Tiere gut und andere böse?» wurde ich letzte Woche in einem Interview gefragt. Und diese Woche wollte eine Journalistin von mir wissen: «Ist es vorstellbar, dass sich die Natur (…) gegen uns Menschen auflehnt?». «Was würde passieren», fragte ein Zuhörer nach einem Vortrag, «wenn man Manager durch Tiere ersetzen würde»?

    Alle Fragesteller*innen erliegen hier der gleichen Versuchung: Sie übertragen menschliche Werte und Eigenschaften auf Tiere. Doch «gut» oder «böse» sind Werte, die wir als Menschen definiert haben. Was «gut» ist, unterscheidet sich von Land zu Land, hier in der Schweiz sogar von Kanton zu Kanton, und letztlich von Mensch zu Mensch.

    Ein Tier kann nicht «gut» sein und auch nicht «böse». Es ist, wie es ist – natürlich.

    Natürlich kann sich ein einzelnes Tier gegen einen Menschen auflehnen. Aber eine ganze Art oder die Natur als solche tut und kann das nicht. Wird ein Haustier schlecht behandelt, kann es sich gegen den Menschen wehren. Aber der Hund, der von seinem Besitzer misshandelt wird, kann sich (in diesem Fall leider) nicht mit anderen Nachbarshunden gemeinsam gegen den Übeltäter verbünden.

    Auch in Frank Schätzings Roman «Der Schwarm» ist es nur dem Anschein nach die Natur, die sich gegen den Menschen auflehnt. In Wirklichkeit, und hier verlässt Schätzing das Reich der Biologie und wechselt in die Science-Fiction, ist es ein schnelllernender, hochintelligenter Superorganismus, der den Menschen zu schaffen macht. Er infiziert die Hirne von Meerestieren und lässt Orcas Boote attackieren und Tiefseewürmer Tsunamis verursachen.

    Die Grundidee dafür hat sich Schätzing bei Parasiten und Pilzen abgeguckt, die zum Beispiel Ameisen befallen. Einmal auf der Ameise gelandet, findet der Pilz den Weg ins Hirn und steuert das Verhalten der Ameise so, dass er sich besonders gut weiterverbreiten kann. Das der Pilz ganze Ameisenkolonien zu koordinierten Attacken auf Menschen antreiben könnte, gehört hingegen ins Reich der Fiktion.

    So problematisch es ist, Tieren menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, so gefährlich ist es aber auch «Naturregeln» auf uns Menschen zu übertragen. Denn die Frage nach den «tierischen Managern» würde für uns Menschen nur ein ungutes Erwachen bringen.

    In der Natur gilt, von Familienstrukturen mal abgesehen, immer der Darwinismus – das Recht des Stärkeren. Wann immer wir Menschen die menschliche Version davon ausprobiert haben, den Sozialdarwinismus, waren die Auswüchse katastrophal. Das dunkelste Beispiel ist die NS-Zeit in Deutschland.

    Statt aus Tieren Menschen und aus Menschen Tiere zu machen, sollten wir uns besser fragen, wie wir unsere menschlichen Werte einsetzen können, um Tiere und die Natur zu schützen.

    Wir Menschen können gut sein. Wir können Verantwortung für andere übernehmen – als einzige Lebewesen auf diesem Planeten. Ein Orca kann keine Verantwortung für einen Tiefseewurm übernehmen. Wir schon. Würden wir diese Fähigkeit wirklich nutzen, hätte die Natur – hypothetisch gesehen – auch keinen Grund mehr, sich gegen den Menschen aufzulehnen.

    Zoodirektor Severin Dressen 2020 im Masoala Regenwald des Zoo Zürich.

    Zoodirektor Severin Dressen.

    Nebenstehender Text erschien erstmals im Rahmen der «Zoologisch»-Kolumne Severin Dressens im «SonntagsBlick-Magazin».